Transdisziplinäres Projektstipendium „Insectopolis“
Wie Kunst und Wissenschaft zusammenarbeiten können, um die Beziehungen zwischen Menschen und Insekten neu auszurichten.

Tanzperformance „I don’t hear Bugs in the City“ im Grüneburgpark am 8. Juli 2024
Inspiriert von den Zwischentönen alltäglicher Begegnungen zwischen Insekten und Menschen schafft die Solo-Performance von Anno Bolender eine außergewöhnliche visuelle und klangliche Erfahrung. Bolenders künstlerische Forschung nutzt das Medium Tanz, um die Frage der Ko-Existenz mit der Insektenwelt durch das Prisma der Körperlichkeit zu betrachten. Die Performance ist im Rahmen eines transdisziplinären Projektstipendiums mit dem Titel „Insectopolis“ entstanden, das vom ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung an Anno Bolender vergeben wurde. Das Projektstipendium ist Teil des interdisziplinären Forschungsprojekts SLInBio.
Anno Bolender nimmt mit der Performance „I don’t hear Bugs in the City – Eine choreografische Erinnerung an die kleinen Lebewesen unter uns“ die Beziehungen zwischen Menschen und Insekten in der Stadt unter die Lupe. Bolender erforscht dafür die Bewegungspotenziale des menschlichen Körpers, inspiriert von der Theorie des „Deep Listening“ der Komponistin Pauline Oliveros.
Im Zuge des Projektstipendiums wurde der transdisziplinäre Dialog zwischen den Forschenden des Projektverbundes SLInBio in den beteiligten Partnerorganisationen wie dem Palmengarten der Stadt Frankfurt am Main oder dem Senckenberg Naturmuseum und der künstlerisch-ästhetischen Perspektiven realisiert. Dieser Dialog folgte dem Projektziel, neue Erzählungen über das urbane Zusammenleben von Menschen und Insekten zu entwickeln. Die künstlerische Forschung entwirft poetische Interpretationen der Natur und hinterfragt im Dialog mit der wissenschaftlichen Forschung etablierte Begriffe, Standpunkte und Gewohnheiten zum Zusammenleben von Menschen und Insekten im Anthropozän.
Anno Bolender erarbeitete in drei partizipativen Workshops gemeinsam mit Menschen aus Frankfurt und der Umgebung, darunter Forschende des Projekts und eine Grundschulklasse, verschiedene Motive und Bewegungen. Die verschiedenen und vielfältigen Perspektiven der Teilnehmenden auf die Insekten und ihre Geräuschwelt fließen durch das Von- und Miteinander-Lernen während der Workshops in die Choreographie der Solo-Performance von Anno Bolender ein.
Die tänzerische Performance zeigte Anno Bolender im Juni und Juli an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum der Stadt Frankfurt am Main.
Anno Bolender
Anno Bolender ist Performance- und Tanzkünstler*in, Produzent*in und Aktivist*in und beschäftigt sich mit sozialen und politischen Belangen von Communities, die von Marginalisierung betroffen sind. Bolender verbindet Theorie und Praxis, um die Entwicklung einer solidarischeren Gesellschaft voranzutreiben. Bolenders Arbeiten wurden unter anderem in Frankfurt, Offenbach, Porto, Madrid, Bochum, Stuttgart sowie im Maxim Gorki Theater in Berlin gezeigt.

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Wie hast Du Dich als Tänzer*in und Choreograph*in dem Thema „Insekten in der Stadt angenähert?“
“Tanzen ist ja zunächst einmal Bewegung. Der Contact-Improvisations-Tänzer Steve Paxton prägte den Begriff des “Small Dance” – und meint damit Bewegungen, die dein ganzer Körper macht, selbst wenn du denkst, dass du ganz still stehst. Aber ein lebender Körper steht nie still. Unsere Körper sind immer in Bewegung, sie tanzen immer und jederzeit. Und so ist es bei unserer lebendigen Umwelt auch: Überall um uns herum sind kleine Bewegungen. Was mich an diesem Gedanken fasziniert, ist, dass es ein schöner Zugang zur Welt ist. Alles um uns herum ist die ganze Zeit am Leben, am Tanzen. Nur vergessen wird das viel zu häufig. Wir nehmen in der ganzen Überflut an Dingen in unserer vollgepackten Welt nur noch das Größte, das Lauteste wahr. Dabei ist jede Bewegung, mag sie noch so leise und klein sein, unheimlich wichtig. Meine Idee ist daher, choreografisch diese kleinen, unscheinbaren Bewegungen, die nicht weniger wichtig, sondern vielleicht sogar viel basaler und profunder sind, zu vergrößern und ihnen Gehör zu verschaffen. Denn wenn mensch ganz genau hinhört und hinsieht, kann mensch so wahnsinnig viel Schönheit erleben.”
Wie können Menschen und Insekten zu einer besseren Co-Existenz finden?„Ich glaube, wir – also wir Menschen – müssen wieder über und mit unseren Körpern lernen, dass wir nur ein Teil unseres Ökosystems sind. Ich habe das Gefühl, wir benehmen uns, als könnte uns das alles nichts anhaben; die Klima- und Biodiversitätskrise, die Fluten, das Insektensterben. Und natürlich wissen wir, dass das nicht stimmt. Und das ist der Punkt, wo ich eben nicht sage: Wir müssen mehr Faktenwissen über Insekten lernen. Sondern: wir müssen dieses Wissen in verkörpertes Wissen transformieren. Und: Wir müssen wieder lernen, dieses Wissen auch tatsächlich zu fühlen. Wir müssen wütend werden, wenn wir hören, dass in nur drei Jahrzehnten 75% der Insekten verschwunden sind. Wir müssen trauern, wenn es darum geht, was das für uns bedeutet. Wir müssen Faszination, Begeisterung, Dankbarkeit wieder lernen, die wir diesen Wesen entgegenbringen. Nur so werden wir auch wirklich etwas an dieser Situation verändern wollen.“
Welche Erkenntnisse verspricht deine künstlerische Forschung, die sich ja vor allem mit der Geräuschwelt von Insekten befasst? Welche Rolle spielt dabei der eigene Körper?„Der eigene Körper ist ein Resonanzraum für das, was wir tagtäglich erleben, für die Beziehung zu anderen Menschen und unserer Umwelt. Adrienne Maree Brown spricht von „fractals“ – also Mustern, die im Kleinen das widerspiegeln, was auch im Größeren geschieht. Natürlich kann ich mit meiner performativen Forschung nicht das Insektensterben aufhalten. Aber meine Forschung entsteht immer in einer kollektiven Auseinandersetzung mit anderen Körpern und Entitäten (diesmal werden es eben auch Klangkörper sein). Gemeinsam werden wir in den vorbereitenden Workshops im kleinen Rahmen erproben, was im größeren Rahmen vielleicht benötigt wird: Wirklich hinhören, Bewegungen nachvollziehen, Kategorien wie „klein“ und „groß“ auflösen – und das alles mit dem eigenen Körper. Mit ihm beginnen, zu verstehen, einzutauchen und unser Wissen, unsere Erfahrungen und Erinnerungen in verkörpertes Wissen zu transformieren.“
Die Performance
Die Premiere von „I don’t hear Bugs in the City“ fand am 30.6.2024 auf dem ehemaligen Campus Bockenheim in Frankfurt am Main statt.
Film „I don’t hear Bugs in the City“, 2024, Balduin Mund (Regie & Kamera), Anno Bolender (Choreographie & Performance)]
Choreographie: Anno Bolender
Künstlerische Kuration: Nina Queissner
Wissenschaftliche Kuration: Florian D. Schneider
Kostüm: Isabella Koeters
Soundkomposition: Cat Woywod
Dramaturgie: Nicole Berns
Medien- und Öffentlichkeitsarbeit: Verena Rossow, Dominik Opalka, Pia Ditscher, Nicola Schuldt-Baumgart, Iris Dresler, Harry Kleespies
Fotografie: Christin Picard, Frithjof Mohr
Video: Balduin Mund
Produktionshelfer*innen: Christina Trujillo Frede, Frithjof Mohr
Gestaltung/Farbkonzept Flyer: Iris Dresler
Titelmotiv: Nina Queissner und Frithjof Mohr
Dank an alle Mitwirkenden
Wir danken den Jurymitgliedern Ellen Wagner, Brigitte Franzen, Patricia Germandi, Nina Reichert, Carolin Sommer, Bina Perl, Marion Mehring, Lukas Sattlegger, Melina Stein, Deike Lüdtke, Verena Rossow und Nicola Schuldt-Baumgart und allen übrigen Forschenden im Projekt SLInBio; Bina Perl, Carolin Sommer, Nikolai Ignatev und Massimo Terragni für die spannende Führung durch die entomologischen Sammlungen von Senckenberg; Lasse-Marc Riek für die Beratung zur Klangwelt der Insekten und für die Bereitstellung von Insektengeräuschen; Hilke Steinecke für Einblicke in die Insektenvielfalt im Palmengarten Frankfurt.
Weiterhin bedanken wir uns beim Offenen Haus der Kulturen und dem AStA Frankfurt für die Zusammenarbeit; Dörthe Krohn und der Naxos Halle zur Bereitstellung von Räumen und dem Immobilienservice der Universität; Julia Krohmer und dem Senckenberg Biodiversität und Klima - Forschungszentrum für die Bereitstellung von Räumlichkeiten für die Bewegungsworkshops.
Herzlichen Dank an alle Workshop-Teilnehmer*innen und an die Kinder der Klasse Flex-C und ihrer Lehrerin Lisa Hagenauer von der Freiherr-vom-Stein Schule in Rodgau-Dudenhofen für den Diskurs und die Inspiration. Dank auch an alle Künstler*innen für die Einsendungen ihrer Projektskizzen für das Projektstipendium „Insectopolis“.

